Azadehsharifi / La Merda: Ein interview mit Silvia Gallerano und Cristian Ceresoli über ihr theaterstück La Merda
by Azadeh Sharifi, 30 Juli 2014
La Merda geschrieben von Cristian Ceresoli, performt von Silvia Gallerano.
Eine junge Frau sitzt nackt auf der Bühne. Wütend. Hässlich. Verstörend. Kompromisslos. Sie brüllt, sie quäkt, sie singt. Sie erzählt, wie sie groß herauskommen möchte. Raus aus der Trostlosigkeit, raus aus der Armut, raus aus der Vereinsamung. Sie will den großen Traum leben. Ein Star sein, im Fernsehen bekannt werden. Dabei lässt sie nichts unversucht. Um abzunehmen frisst sie ihre eigenen Oberschenkel. Als eine dicke Sängerin für die Nationalhymne gesucht wird, dann wird gefressen, bis diese wie Scheiße aus allen Löchern quillt. Die Frau entblößt auf fesselnde Art und Weise ihre beschämenden Geheimnisse vor dem Publikum. Sie erzählt von den inneren Kämpfen ihres Starrsinns, Widerstands und dem Mut, den sie in der Gesellschaft der „Schenkel und Freiheit“ aufbringen muss.
Das Stück La Merda ist Gewinner von sechs großen Theaterpreisen wie dem begehrten Scotsman Fringe First Award und dem Stage Award für die beste Schauspielerin. 2012 hatte La Merda seine englische Premiere beim Edinburgh Fringe Festival und wurde als Comeback beim Fringe 2013 wieder gezeigt. Seitdem touren Silvia Gallerano und Cristian Ceresoli erfolgreich durch Europa.
Ich habe La Merda im Mai 2014 im Studio я des Maxim-Gorki-Theater gesehen und am nächsten Tag Silvia Gallerano und Cristian Ceresoli zu einem Interview getroffen.
Vielen Dank, dass Ihr Zeit für ein Gespräch gefunden habt. Könnt Ihr darüber erzählen, wie La Merda entstanden ist?
Cristian Ceresoli: Die eigentliche Idee für La Merda war, eine Welt der Werbung zu kreieren, in der ein „Alltagskörper“ – ein Körper von jeder Person – einbricht. Wir wollten von Anfang an mit dem Text und der Performance nah am Alltagsleben bleiben. Allerdings war das zunächst unmöglich, da wir das Gefühl haben, dass die italienischen Theater keine Beziehung zum Alltagsleben haben. Das sieht mensch beispielsweise anhand der leeren Theaterhäuser in ganz Italien. Viele italienische Künstler*innen arbeiten außerhalb von Italien, weil es in unserem Land so schwierig ist. Wir wollten also von Anfang an etwas anderes machen. Einen Dialog mit unserer Umwelt eröffnen. Wir haben verschiedene Medien ausprobiert so wie die sozialen Netzwerke und auch Youtube. Das haben sich dann sehr viele Menschen angeschaut, vor allem Menschen, die noch nie in ihrem Leben im Theater waren. Gleichzeitig haben wir versucht, unser Theaterstück in dieser klaustrophobischen Welt des Theaters zu platzieren, was nicht möglich war. Die großen Theaterhäuser und Institutionen interessieren sich weder für das Alltagsleben noch wollten sie auf einen „Skandal“, der durch den Titel und die Nacktheit ausgelöst wurde, einlassen. Die kleinen Theaterhäuser interessierten sich ebenfalls nicht für das Alltagsleben und sie haben Angst vor dem Ausverkauf, denn dann würden ihre exklusive Position, ihre Intellektualität aufgeben müssen. Deswegen engagieren wir uns für das besetze Theater in Rom, das Teatro Vallo Occupato. Es ist ein freier Raum, der die hermetisch abgeriegelte Theaterwelt durchbrechen will. Natürlich hat sich unser Situation nach dem Auftritt beim Edinburg Fringe Festival geändert. Aber uns ging es hauptsächlich darum, mit den Menschen in unserer Umgebung, unserer Community in Kontakt zu kommen und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren. Und unser Erfolg war, dass wir eben diese Menschen erreicht haben.
Euer Theaterstück handelt von Repräsentation von Frauen im Fernsehen bzw. in den Medien. Eure Kritik geht jedoch weiter.
Cristian: Unser ganzer Alltag ist von der medialen Darstellung von intermenschlichen Beziehungen geprägt. Wie Frauen dargestellt werden, wie wir unser Liebesleben ausleben, ist von der Repräsentation im Fernsehen abhängig. Oder auch was uns als Mann ausmacht oder welches Männerbild wir haben, hängt davon ab, was wir medial vorgelebt bekommen. Wir haben in unserem Theaterstück die Thematik aufgegriffen und auf eine poetische Weise zu diskutieren versucht, was meiner Ansicht nach politischer ist. Es gibt in dem Stück einen sehr cleveren Moment, in dem die Frau von einem körperlich-eingeschränkten Mann missbraucht wird. Es ist ein Ausspielen von Diskriminierung und Ausschlüssen. Sexismus wird gegen Ableismus ausgespielt. Pier Paolo Pasolini und viele andere kluge Menschen haben das bereits durch ihre Kunst gesagt. Die medialen Bilder, die wir Konsument*innen vorgesetzt bekommen, dienen letztlich den hegemonialen Herrschaftsverhältnissen und dem Erhalt der ökonomischen Macht, die ein Aufrechterhalten von Ungleichheit bedeutet.
Inwieweit ist die Nacktheit auf der Bühne als Widerstandsmoment zu den medial präsenten stereotypen Bildern zu verstehen?
Silvia Gallerano: Die Idee des nackten Frauenkörpers, der Nacktheit auf der Bühne war von Anfang an da. Es war Cristians Idee, aber er wusste nicht, wie er es umsetzen sollte. Wir wussten nicht, welches Kostüm die Figur auf der Bühne tragen sollte, da jedes Kostüm diesen Charakter kleiner machen würde. Unsere Überlegen fielen in die Zeit in Italien, in der sich herausstellte, dass die Mitarbeiter*innen von Berlusconi nur junge Mädchen waren. Wenn wir die Figur so angezogen hätten, dann wäre sie darauf reduziert worden. Wir wollten eine Figur erschaffen, mit der jede Person sich identifizieren kann. Der nackte Körper, den jede Person haben könnte und der im Gegensatz zu den Plastikkörpern aus Magazinen oder aus der Werbung steht, sollte der Figur ihre Menschlichkeit wiedergeben. Wir sehen sie als Teil von uns selbst, von uns allen. Wir wollten sie nicht ausstellen und verurteilen. Wir wollten die Alltäglichkeit und das Menschliche darstellen. Interessanterweise können die italienischen Medien damit nicht umgehen. Es gibt italienische Magazine, die den Titel (La Merda/ The Shit/ Scheiße) nicht abdrucken können und wenn wir mit unserem Stück ins italienische Fernsehen wollen, dann darf die Nationalhymne nicht gesungen werden.
Dieser Diskurs existiert ja auch im Theater. Theater ist davon nicht ausgenommen.
Silvia: Ja, es fängt damit an, dass alle Theaterstücke für Männer geschrieben sind. Es sind meist keine Frauenrollen, keine starken Frauenrollen vorhanden. Und wenn es sie gibt, dann sind sie wütend und hungrig, aber sie sind nicht natürlich stark. Dazu kommt, dass Frauen bzw. Schauspielerinnen im Theater sich den ihnen zustehenden Raum nicht nehmen. In La Merda ist eine Erzählung unter der Geschichte versteckt. Aus einer feministischen Perspektive nimmt sich die Figur den Raum. Sie ist eine schreckliche Person, aber unter dieser Figur ist auch eine Schauspielerin, also ich, die sich den Raum nimmt und diese für sich immer mehr in Anspruch nimmt. Und ich denke, dass das weibliche Publikum dies auch spürt. Es entsteht eine Verbindung zwischen mir und dem Publikum.
Das habe ich bei der Performance genauso empfunden. Auf verschiedenen Ebenen stellt sich diese Figur bloß, aber sie nimmt sich den Raum, der ihr zusteht. Und dabei entsteht eine Verbindung zu Dir als Schauspielerin
Silvia: Wir müssen schon stark zwischen mir und ihr unterscheiden. Aber ich empfinde es so, dass sie aus eigener Entscheidung die Kleidung abnimmt. Auch wenn sie hofft, dadurch berühmt zu werden. Sie trägt die Nacktheit wie ein Kleid und es macht sie stark. Eine nackte Frau kann zum Objekt gemacht werden und gleichzeitig sehr kraftvoll und ermächtigt sein. Und wir sind nicht daran gewöhnt, starke nackte Frauenkörper zu sehen. Auch mich als Schauspielerin ermächtigt diese Nacktheit, sie lässt mich stark fühlen. Und ich denke, dass überträgt sich auch auf das Publikum.
Vielen Dank für das Gespräch!